Die große Begriffsverwirrung

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Mina Ahadi (Foto: Evelin Frerk)

Der aus dem Iran geflüchteten Vorsitzendenden des „Zentralrats der Ex-Muslime“, Mina Ahadi, ist (mal wieder) von „linker“ Seite vorgeworfen worden, einen „antimuslimischen Rassismus“ zu verbreiten. Dagegen ließe sich einwenden, dass Mina Ahadi in erster Linie nicht gegen Muslime kämpft, sondern für Muslime, denn diese sind ja in besonderer Weise Opfer des politischen Islam. Man könnte an dieser Stelle auch leicht aufzeigen, dass Mina als Vorsitzende des „Internationalen Komitees gegen die Todesstrafe“ weit mehr Muslimen das Leben gerettet hat als der Bundesvorstand der „Linksjugend“, der sich über Ahadis Islamkritik mokiert. Stattdessen aber soll hier der Fokus auf ein allgemeineres Thema gelenkt werden, nämlich die intellektuell unredliche Verwendung von Begriffen, die jede inhaltliche Substanz verlieren und somit nur noch als „Killerphrasen“ im „empörialistischen Überbietungswettbewerb“ taugen. Aus gegebenen Anlass veröffentlichen wir hier das Unterkapitel „Die große Begriffsverwirrung“ aus „Die Grenzen der Toleranz“, das sich mit dem völlig widersprüchlichen Begriff des „Kulturrassismus“ (bzw. des „antimuslimischen Rassismus“) auseinandersetzt.

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Die große Begriffsverwirrung

Die Islamdebatte krankt seit Langem daran, dass die Vertreter unterschiedlicher Positionen alles tun, um die Gegenseite mit moralischen Killerphrasen außer Gefecht zu setzen. Seit Jahren tobt auf diesem Gebiet ein empörialistischer Überbietungswettbewerb, in dem es nicht mehr um den rationalen Austausch von Argumenten geht, sondern um die größtmögliche Diffamierung der „Anderen“.

Dies zeigt sich nicht zuletzt in der inflationären Verwendung diskreditierender Begriffe wie „antisemitisch“, „rassistisch“, „faschistisch“ oder „islamophob“. Selbstverständlich ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, wenn Antisemitismus als Antisemitismus, Rassismus als Rassismus oder Faschismus als Faschismus bezeichnet wird. Gefährlich wird es aber, wenn der Bedeutungshorizont dieser Begriffe so weit ausgedehnt wird, dass sie ihre inhaltliche Substanz verlieren und derart entkernt bei jeder passenden wie unpassenden Gelegenheit zur Brandmarkung Andersdenkender verwendet werden können.

Nehmen wir nur den Begriff „Rassismus“, bei dem eigentlich klar sein sollte, was darunter sinnvollerweise zu verstehen ist und was nicht:

Definition Rassismus

Rassismus ist eine Ideologie, die darauf abzielt, Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft (früher fälschlicherweise als „Rassenzugehörigkeit“ bezeichnet)[i] unterschiedlich zu behandeln, was in der Regel mit der Unterstellung begründet wird, dass zwischen den Angehörigen verschiedener Ethnien bedeutsame biologische Unterschiede bestünden, aus denen sich eine unterschiedliche Wertigkeit der Populationen und ihrer Mitglieder ableiten ließe. Rassismus ist also im Kern eine biologistische Ausgrenzungsideologie, die die Diskriminierung von Menschen darüber legitimiert, dass man ihnen einen anderen (meist als „minderwertig“ klassifizierten) Genpool zuweist. Das heißt im Umkehrschluss: Wem biologische Merkmale wie Hautfarbe, Augenform, Haarstruktur, ethnische Herkunft etc. bei der Bewertung seiner Mitmenschen völlig schnuppe sind, kann im eigentlichen Wortsinne kein Rassist sein.

So weit, so klar, könnte man meinen. Inzwischen jedoch wurde der Begriff „Rassismus“ derart überdehnt, dass er zur Diskreditierung jeder Form von Kritik an jeder noch so kritikwürdigen Gruppe herangezogen werden kann. Welch absurde Blüten dies treiben kann, zeigt das Beispiel der Vorsitzenden des Zentralrats der Ex-Muslime, Mina Ahadi, die als Widerstandskämpferin gegen das Mullahregime vor vielen Jahren aus dem Iran geflohen ist.[ii] Als Iranerin in Deutschland musste sie oft genug erleben, was Alltags-Rassismus bedeutet. Nicht im Entferntesten würde Mina, die eine der Hauptaktivistinnen der Kampagne „One Law for All“ („Gleiches Recht für Alle“) ist, auf den Gedanken kommen, Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft zu diskriminieren oder irgendeine andere Form von Fremdenfeindlichkeit zu unterstützen.

Ich kenne Mina seit vielen Jahren. Wenn es irgendjemanden gibt, dem man „Rassismus“ nun wirklich nicht unterstellen kann, dann ihr. Dennoch wurde gerade ihr in unschöner Regelmäßigkeit „Rassismus“ vorgeworfen. Der Grund dafür ist, dass sie die Bewegung des politischen Islam, mit dessen Auswirkungen sie in ihrer Arbeit als Koordinatorin des Internationalen Komitees gegen Steinigung und Todesstrafe täglich konfrontiert ist, in aller gebotenen Schärfe kritisiert. Was, um alles in der Welt, so fragt man sich, soll daran „rassistisch“ sein? Nun, der Vorwurf, der gegen Mina erhoben wird, lautet, dass jemand, der den Islam so scharf kritisiert wie sie, notwendigerweise „kulturrassistisch“ argumentiere. „Kulturrassistisch“ sei es nämlich, Menschen abzuwerten, weil sie anderen kulturellen Vorstellungen folgen als die Bevölkerungsmehrheit.

Ich halte diesen Vorwurf des „Kulturrassismus“ aus zweierlei Gründen für absurd und gefährlich. Erstens: Wenn eine so entschiedene Anti-Rassistin wie Mina Ahadi als „Rassistin“ beschimpft werden kann, wenn also selbst entschiedenster Anti-Rassismus als Rassismus gilt, dann gerät das eigentliche Problem des Rassismus, die Abwertung von Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, aus dem Blick. Zweitens: Gefährlich ist der Begriff des „Kulturrassismus“ auch deshalb, weil er letztlich auf dem gleichen falschen Denkmuster gründet, der für rassistische Argumentationen typisch ist, nämlich der unzulässigen Vermischung biologischer und kultureller Kategorien.

Denn Muslime sind selbstverständlich keine Rasse, keine Ethnie, keine biologisch definierbare Population innerhalb der Spezies Homo sapiens. Die Tatsache, dass ein Mensch aus einem bestimmten Teil der Erde stammt, in der Muslime die Mehrheit stellen, erlaubt daher nicht den Rückschluss, dass er oder sie Muslim ist. Selbst die Geburt in eine muslimische Familie rechtfertigt nicht die Annahme, dass sich die betreffende Person als Muslim oder Muslima versteht. Kennzeichnend für rassistische Denkmuster ist seit jeher, Menschen über ihre Geburt zu definieren, also über ein unveränderliches Merkmal, das sie ein Leben lang mit sich herumtragen. Kulturelle Eigenschaften wie persönliche Glaubensüberzeugungen und Gebräuche sind jedoch wandelbar, keineswegs per Geburt vorgegeben, weshalb der Kunstbegriff „Kulturrassismus“ in gefährlicher Weise in die Irre führt.

Um nicht missverstanden zu werden: Zweifellos ist es ein besorgniserregendes Phänomen, dass es in unserer Gesellschaft eine steigende Anzahl von Menschen gibt, die andere Menschen bloß deshalb abwerten, weil sie muslimischen Glaubens sind, ohne sich auch nur im Entferntesten dafür zu interessieren, wie diese ihren Glauben interpretieren. Nur: „Kulturrassismus“ ist ein denkbar schlechter Begriff, um dieses Phänomen zu kennzeichnen. Sehr viel sinnvoller ist es, hierfür die Begriffe „Antimuslimismus“ oder „Muslimenfeindlichkeit“ zu verwenden (äquivalent zu den Begriffen „Antisemitismus/Antijudaismus“ und „Judenfeindlichkeit“), die tatsächlich beschreiben, was sie zu beschreiben vorgeben.[iii]

In diesem Zusammenhang sollten wir uns klarmachen, dass derjenige, der in den stereotypen Kategorien des Antimuslimismus denkt, nicht notwendigerweise auch Rassist sein muss. Zwar können Antimuslimismus und Rassismus gepaart auftreten (etwa wenn behauptet wird, dass Muslime nur deshalb Muslime sind, weil sie aufgrund ihrer ethnischen Herkunft weniger intelligent seien – eine Denkfigur, die im Rahmen der sogenannten „Sarrazin-Debatte“ hier und da aufblitzte).[iv] Dennoch handelt es sich um zwei grundverschiedene Phänomene, die man im Sinne einer präzisen Analyse auseinanderhalten sollte. Dies ist auch deshalb wichtig, weil wir nur so den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Juden- und Muslimenhass auf die Spur kommen können.

Im Unterschied zum heutigen Antimuslimismus fußte der Antisemitismus des 20. Jahrhunderts tatsächlich auf rassistischem Denken. Ursache dafür war unter anderem, dass „die Juden“ im Unterschied zu „den Muslimen“ sehr viel eher als ethnische Einheit empfunden werden konnten – auch wenn die Idee des „jüdischen Volkes“ letztlich auf kontrafaktischen Mythen beruht, wie der israelische Historiker Shlomo Sand in seinem Buch Die Erfindung des jüdischen Volkes nachgewiesen hat.[v] Die rassistische Grundstruktur des Antisemitismus des 20. Jahrhunderts zeigte sich nicht zuletzt darin, dass er sich eben nicht nur gegen diejenigen richtete, die sich zum jüdischen Glauben bekannten, sondern auch gegen diejenigen, die diesen Glauben vehement ablehnten. Ja, paradoxerweise wurde gerade die Ablehnung der jüdischen Religion als „typisch jüdisch“ empfunden.

Da aus der jüdischen Community einige der bedeutendsten Religionskritiker hervorgegangen sind (u.a. Baruch de Spinoza, Karl Marx und Sigmund Freud) und unter „jüdischen“ Gelehrten und Politikern (etwa in der sozialistischen Bewegung) die Zahl der Atheisten und Agnostiker überproportional groß war, wurden „Gottlosigkeit“ und Areligiosität als besondere Kennzeichen der „jüdischen Kulturzersetzung“ begriffen. (Aus diesem Grund gab es im nationalsozialistischen Deutschland offiziell auch keine „Atheisten“: Wer nicht einer der beiden christlichen Kirchen bzw. einer anderen Glaubensgemeinschaft angehörte, wurde in den amtlichen Unterlagen als „Gottgläubiger“ geführt. Atheistisches Freidenkertum hingegen galt als Hochverrat.[vi])

Hier zeigt sich der Unterschied des alten, rassistischen Antisemitismus zum heutigen Antimuslimismus besonders deutlich. Denn selbst die übereifrigsten Muslimhasser der Gegenwart richten sich in der Regel nicht gegen Menschen, die den muslimischen Glauben aufgegeben oder nie praktiziert haben, obwohl sie in eine „muslimische Familie“ hineingeboren wurden. Im Gegenteil: Gerade „Apostaten“ (Menschen, die vom Glauben abgefallen sind) wie Salman Rushdie[vii], Ayan Hirsi Ali[viii] oder eben Mina Ahadi zählen zu den wichtigsten Gewährsleuten, mit denen Antimuslimisten ihre Ablehnung des Islam begründen. Von diesen Apostaten grenzen sie sich auch keineswegs ab, sondern suchen (mitunter verzweifelt) ihren Kontakt.

Gewiss: Man mag es bedauern, dass Ex-Muslime wie Rushdie, Ali oder Ahadi, die alles andere im Sinn haben, als eine Pogromstimmung gegen Muslime zu schüren, Applaus von jenen bekommen, die eine solche Stimmung bewusst oder unbewusst verstärken. Immerhin aber zeigt dieser „Beifall von der falschen Seite“, dass die Ausgrenzungsstrategien der Antimuslimisten (im Unterschied zum Denken klassischer Antisemiten) in ihrem Kern nicht rassistisch sind.

Deshalb auch ist der Vorwurf des Rassismus ungeeignet, um den stereotypen Vorstellungen der Antimuslimisten entgegenzuwirken. Er ist zum einen analytisch falsch, weil sich antimuslimische Ausgrenzungsstrategien nicht prinzipiell gegen Iraner, Iraker oder Türken richten, sondern nur gegen solche, die Muslime sind. Zum anderen ist der Rassismus-Vorwurf aber auch politisch kontraproduktiv, da sich Antimuslimisten durch diese falsche Unterstellung in ihren Ansichten und Zielen kolossal missverstanden fühlen, was ihren Argwohn gegenüber der vermeintlichen „Lügenpresse“ verschärft und zu weiterer Radikalisierung führt.

Anmerkungen

[i] Die geno- und phänotypischen Unterschiede zwischen den Ethnien sind viel zu gering, als dass es gerechtfertigt wäre, den biologischen Begriff der „Rasse“ zu benutzen. Daher wurde der Begriff im 20. Jahrhundert nicht nur im politischen, sondern auch im biologischen Sprachgebrauch fallengelassen. Wegweisend hierfür war die Schrift We Europeans: A Survey of Racial Problems, die der Begründer des evolutionären Humanismus, der Evolutionsbiologe und spätere erste UNESCO-Generaldirektor Julian Huxley (1887−1975) in Zusammenarbeit mit dem britischen Anthropologen Alfred Cort Haddon (1855−1940) im Jahr 1935 publizierte.

[ii] Vgl. Mina Ahadi/Sina Vogt: Ich habe abgeschworen. Warum ich für die Freiheit und gegen den Islam kämpfe. München 2008.

[iii] Vgl. Armin Pfahl-Traughber: Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Antisemitismus und „Islamophobie”. Eine Erörterung zum Vergleich und ein Plädoyer für das „Antimuslimismus”-Konzept. In: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.): Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung, Brühl 2010.

[iv] Das 2010 erschienene Buch von Thilo Sarrazin Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (München 2010) löste eine breite gesellschaftliche Kontroverse aus, wodurch das eigentlich sehr trocken geschriebene Buch zu einem der größten Erfolge in der Geschichte der Bundesrepublik wurde. Heftig umstritten war dabei insbesondere Sarrazins These, dass Deutschland durch ungelenkte Einwanderung immer „dümmer“ werde. Sarrazin stützte sich dabei auf die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Intelligenz zu einem hohen Maß erblich bedingt ist, wandte dieses Forschungsergebnis aber in höchst problematischer Weise auf Populationen an (die Deutschen versus die Einwanderer aus muslimischen Ländern), wodurch er die rechtspopulistische Aversion gegen „die Muslime“ verschärfte. Die im Zuge der Sarrazin-Debatte verstärkte Vermischung kulturalistischer und biologistischer Argumente könnte man tatsächlich mit dem Begriff „Kulturrassismus“ belegen, jedoch muss man sich dabei vor Augen halten, dass kulturalistische und biologistische Argumentationen nicht notwendigerweise zusammen auftreten.

[v] Vgl. Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand. Berlin 2010.

[vi] Der Deutsche Freidenker-Verband wurde im März 1936 durch den Volksgerichtshof zu einer „hochverräterischen Organisation“ erklärt und verboten. Zur wechselhaften Geschichte des atheistischen Freidenkertums in Deutschland siehe u.a.: Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland. Marburg 2011.

[vii] Der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie (*1947) wurde nach der Veröffentlichung seines Romans Die satanischen Verse von Ajatollah Khomeini im Februar 1989 per Fatwa zum Tode verurteilt. Das Kopfgeld, das die iranische Republik für die Ermordung Rushdies bereitstellte, betrug anfangs eine Million Dollar. Im Februar 2016 wurde das Kopfgeld auf vier Millionen Dollar erhöht.

[viii] Die in Somalia geborene Politikwissenschaftlerin Ayan Hirsi Ali (*1969) erhält seit 2002 Morddrohungen aus islamistischen Kreisen, vor allem seit der Ermordung ihres Kooperationspartners, des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh am 2. November 2004. Ihr Buch Ich klage an. Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen (München 2005) war ein internationaler Bestseller.

Quelle: Michael Schmidt-Salomon: Die Grenzen der Toleranz – Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen. Piper 2016.

 

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